Organisierter Betrug rund um das Bürgergeld bleibt ein sicherheitspolitisches und sozialpolitisches Thema. Offizielle Antworten der Bundesregierung und neue Aussagen aus Jobcentern zeichnen ein Bild, in dem professionell agierende Gruppen EU-Bürger mit fingierten Jobs nach Deutschland holen und einen Teil der Sozialleistungen abschöpfen. Die Bundesregierung und die Bundesagentur für Arbeit (BA) wollen nun Datenaustausch, Ermittlungsstrukturen und Kontrollen ausbauen.

Bandenmäßiger Betrug mit Bürgergeld breitet sich immer mehr aus. Die Zahlen haben sich im letzten Jahr fast verdoppelt.
- Mehr als 400 Fälle von organisiertem Bürgergeld-Betrug hat die Bundesagentur für Arbeit für das Jahr 2024 gemeldet.
- Die Täter locken EU-Bürger nach Deutschland, indem sie ihnen gut bezahlte Arbeit versprechen.
- Stattdessen werden sie dazu benutzt, Sozialleistungen zu bekommen, die sie an die Hintermänner abtreten müssen.
Die Lage in Zahlen
Die zuletzt veröffentlichten Zahlen sind eindeutig: Für das Jahr 2024 meldeten die Jobcenter 421 Fälle von „bandenmäßigem Leistungsmissbrauch“ beim Bürgergeld; in 209 Fällen wurde Strafanzeige gestellt. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage hervor.
Insgesamt bezogen zuletzt etwa 5,5 Millionen Menschen Bürgergeld – der Anteil organisierter Missbrauchsfälle ist damit absolut gestiegen, im Verhältnis aber weiterhin sehr klein. Für 2025 liegen bis zum Frühsommer bereits weitere hunderte Fälle vor.
Tatmuster: Anwerbung und Scheinbeschäftigung
Die geschilderte Masche folgt in vielen Fällen einem ähnlichen Ablauf: Netzwerke werben Menschen aus EU-Staaten mit Versprechen auf Arbeit an, melden sie an Adressen an, organisieren Beschäftigungsnachweise mit sehr geringen Einkommen und beantragen ergänzende Leistungen.
Die Hintermänner treten teils auch als Vermieter auf, kassieren überteuerte Mieten in überbelegten Wohnungen und lassen sich einen Teil der ausbezahlten Leistungen abtreten. Jobcenter berichten, dass die Entdeckung solcher Strukturen häufig zufällig geschieht – etwa, wenn bei Massenanmeldungen an auffälligen Adressen die Behörden stutzig werden.
„ Menschen werden mit verschiedenen Versprechungen angeworben und nach Deutschland gebracht. Die Banden haben alle Fäden in der Hand. Sie kümmern sich um Anmeldungen, Arbeitsverträge und Unterkünfte – und schöpfen Gehalt, Bürgergeld und erstattete Wohnkosten ab.“ – Lutz Mania, Geschäftsführer des Jobcenters Berlin‑Mitte
Die Rechtslage: Wann EU‑Bürger Anspruch auf Bürgergeld haben
Rechtsgrundlage ist § 7 SGB II. Demnach erhalten Leistungen Personen, die erwerbsfähig, hilfebedürftig, im maßgeblichen Alter sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben. Unionsbürger haben grundsätzlich kein Recht auf Bürgergeld, wenn sie sich ausschließlich zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten.
Anders ist es, sobald eine echte Arbeitnehmereigenschaft vorliegt – dann greift die Freizügigkeit. Die genaue Schwelle ist juristisch konkretisiert: Das Bundessozialgericht stellte klar, dass Tätigkeiten in minimalem Umfang (Beispiel: wenige Stunden pro Monat) nicht ausreichen, um Arbeitnehmereigenschaft zu begründen. In der Praxis bildet der Nachweis echter, nennenswerter Erwerbstätigkeit die Voraussetzung für ergänzende Leistungen.
Dieses juristische Gefüge erklärt, warum Scheinbeschäftigungen als „Hebel“ genutzt werden: Wird ein Arbeitsverhältnis nur vorgetäuscht, kann der Anspruch formell erschlichen werden – genau hier setzen die Ermittlungen der Jobcenter an.
Mehr Datenaustausch, neue Strukturen, gestärkte Kontrolle
Die Bundesregierung und die BA kündigen gezielte Schritte an. Kernpunkte sind ein verbesserter, automatisierter Datenaustausch zwischen Ausländerbehörden, Jobcentern, Finanzverwaltung und Sicherheitsbehörden sowie der Aufbau eines „Kompetenzzentrums Leistungsmissbrauch“ bei der BA, das relevante Hinweise bündeln, Muster analysieren und Ermittlungsstränge systematisieren soll. Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas betonte, die Grundsicherung müsse „resistenter gegen Missbrauch“ werden; konkrete Vorschläge für den Herbst sind angekündigt.
Auch der Zoll – speziell die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) – spielt eine größere Rolle, weil viele Tatkomplexe Querverbindungen zu illegaler Beschäftigung aufweisen. Die FKS bezifferte die festgestellte Schadenssumme über alle Prüfbereiche (nicht nur Bürgergeld) für 2024 auf über 766 Millionen Euro; die Bundesregierung will den Zoll personell und technisch stärken. Das dient auch der Abschöpfung illegal erlangter Mittel und der Verbesserung der Beweislage in komplexen Strukturen.
Wo die Reform ansetzt – und wo Details zählen werden
Im politischen Raum stehen aktuell mehrere Ansatzpunkte zur Diskussion:, um eine Antwort auf die derzeitige Lage zu finden.
- Erwerbstätigkeitsbegriff schärfen: Eine präzisere Abgrenzung der Arbeitnehmereigenschaft im SGB II soll Scheinbeschäftigungen erschweren – eine Forderung, die auch Jobcenter‑Praktiker stützen. Diskutiert wird, ob ein Mindestumfang der Beschäftigung (Höhe oder Dauer) als Kriterium taugt.
- Datenaustausch und Prüfautomatisierung: Der geplante, rechtskonforme Abgleich von Meldedaten, Arbeitgeberregistern und Leistungsakten soll Muster – etwa Massenanmeldungen an wenigen Adressen – schneller sichtbar machen.
- Verfolgungsdruck erhöhen: Bessere Verzahnung von Jobcentern, Zoll und Staatsanwaltschaften sowie zentrale Auswertung von Tatmustern (Kompetenzzentrum) sollen die Quote belastbarer Beweise und Urteile steigern.
Viel zu tun für bessere Kontrollen
Mit der Bürgergeld‑Reform will die Bundesregierung nach eigener Darstellung die Vermittlung in Arbeit wieder stärker ins Zentrum rücken – flankiert von härterem Vorgehen gegen organisierte Ausnutzung. Entscheidend wird sein, ob präzisere Anspruchsregeln, schnellerer Datenaustausch und spezialisierte Ermittlungsstrukturen die Lücke zwischen Verdachtsfällen und gerichtsfesten Nachweisen schließen.