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Hunderte Fälle gemeldet: Organisierter Betrug beim Bürgergeld

Immer mehr Hinweise deuten auf systematischen Sozialbetrug beim Bürgergeld hin. Die Bundesregierung zählt Hunderte Fälle von bandenmäßigem Missbrauch – als Helfer dienen vor allem EU-Bürger, die von den Drahtziehern gezielt nach Deutschland gelockt werden. Was hinter den kriminellen Strukturen steckt und warum es so schwierig ist, sie zu stoppen.

Jobcenter Logo mit einem Geldsack und einer Hand, die danach greift - Erstellt mit AI durch Betrugstest Prompt.

In Deutschland häufen sich Fälle von Sozialleistungsbetrug. Die Drahtzieher nutzen Lücken im bestehenden System, um sich in großem Stil zu bereichern.

  • Die Jobcenter meldeten mehr als 400 Fälle von organisiertem Missbrauch von Sozialleistungen.
  • Betrüger nutzen eine Lücke im Gesetz, um EU-Bürger nach Deutschland zu locken und sich mit ihrer Hilfe am System zu bereichern.
  • Nur ein kleiner Teil der Vorgänge wird aufgedeckt, die Dunkelziffer ist nach Einschätzung der Regierung sehr hoch.

Ein wachsendes Problem mit klaren Mustern

Die Zahl klingt zunächst überschaubar: 421 Fälle von „bandenmäßigem Leistungsmissbrauch“ beim Bürgergeld im Jahr 2024. Doch die Dynamik dahinter alarmiert Politik und Behörden gleichermaßen. Noch 2023 waren es lediglich 229 solcher Fälle – fast eine Verdopplung innerhalb eines Jahres. Für 2025 meldet die Bundesregierung bis Ende Mai bereits 195 Verdachtsfälle, von denen 96 zu Strafanzeigen führten.

Die Zahlen stammen aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen, über die zuerst die Rheinische Post berichtet hatte. Grundlage sind die Daten von 300 Jobcentern, die gemeinsam von Kommunen und der Bundesagentur für Arbeit getragen werden. Nicht berücksichtigt wurden die 104 rein kommunal organisierten Jobcenter. Das tatsächliche Ausmaß dürfte also noch größer sein. Die Regierung selbst geht von einer „hohen Dunkelziffer“ aus.

Gezielte Ausbeutung durch organisierte Strukturen

Was die Jobcenter als bandenmäßigen Betrug bezeichnen, ist ein ausgeklügeltes System: Menschen aus ärmeren EU-Staaten wie Bulgarien oder Rumänien werden von kriminellen Netzwerken rekrutiert und nach Deutschland gebracht – meist mit dem Versprechen auf Arbeit und bessere Lebensverhältnisse. Vor Ort angekommen, werden sie in Minijobs gemeldet, die nur wenige Stunden im Monat umfassen und gerade so den formalen Anspruch auf Bürgergeld ermöglichen.

Parallel dazu sorgen die Drahtzieher für Meldeadressen, oft mit Hilfe gefälschter Dokumente. Damit erhalten die Migranten den rechtlichen Status als Arbeitnehmer und können Sozialleistungen beantragen – inklusive Mietzuschüssen, Heizkosten und Erstausstattung. Für das Jobcenter sieht alles zunächst regelkonform aus.

Schrottimmobilien, hohe Mieten, doppelte Abzocke

In Wahrheit landen viele der Betroffenen in heruntergekommenen Gebäuden, sogenannten Schrottimmobilien. Dort teilen sich mehrere Familien beengte und teils gesundheitsgefährdende Wohnräume. Die Mieten sind auffällig hoch – genau bis zur maximal vom Jobcenter akzeptierten Grenze. Vermieter und Hintermänner sind häufig dieselben Personen, die bereits die Jobs vermittelt und die Anreise organisiert haben. Sie kassieren mehrfach: über die Bürgergeldzahlungen, die Mietzuschüsse – und manchmal sogar direkt aus dem Regelbedarf der betroffenen Menschen.

Der Fall hat eine geografische Komponente: Besonders betroffen sind Städte mit viel leerstehendem oder marodem Wohnraum wie Duisburg oder Gelsenkirchen. Dort kam es in den vergangenen Monaten zu Razzien, bei denen entsprechende Strukturen aufgeflogen sind. Auch Berlin taucht regelmäßig in den Ermittlungen auf.

Warum der Betrug so schwer aufzudecken ist

Einer der Gründe für den Missbrauch liegt im System selbst: Die Jobcenter sind nicht in der Lage, jeden Antrag detailliert zu prüfen. Wenn ein Arbeitsvertrag, eine Meldeadresse und ein Mietvertrag vorgelegt werden, wird meist bewilligt. Ob der Antragsteller tatsächlich in der Wohnung lebt oder ob der Job real ausgeübt wird, kann nur durch aufwendige Kontrollen festgestellt werden – und die sind eher die Ausnahme.

Hinzu kommt: Zwischen den beteiligten Behörden wie Finanzämtern, Familienkassen, Meldeämtern und Jobcentern fehlt häufig ein effektiver Datenaustausch. Um gegen diese und andere Betrugsmaschen effektiv vorzugehen, müssen diese Missstände behoben werden.

Rechtlicher Rahmen: Was ist überhaupt erlaubt?

Grundsätzlich gilt innerhalb der Europäischen Union das Prinzip der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Wer in einem anderen EU-Staat eine Arbeit aufnimmt – auch als Minijobber – darf dort leben und hat in der Regel Anspruch auf Sozialleistungen. Ein Arbeitsverhältnis über wenige Stunden im Monat reicht aus, um als erwerbstätig zu gelten.

Dieses Prinzip ist ein zentrales Element der EU, wird aber in diesem Fall systematisch ausgenutzt. Die rechtlichen Hürden für den Leistungsbezug sind bewusst niedrig angesetzt – um auch prekären Beschäftigten Unterstützung zu gewähren. Das öffnet allerdings auch Tür und Tor für organisierte Missbrauchsmodelle.

Ein lukratives Geschäftsmodell auf dem Rücken der Schwächsten

Besonders perfide: Die betroffenen Menschen profitieren kaum von dem System, in das sie gedrängt werden. Ihr regulärer Lohn reicht kaum zum Leben, die Sozialleistungen müssen sie größtenteils an die Hintermänner abführen. Was bleibt, verdienen viele durch Schwarzarbeit – in Küchen, auf Baustellen oder in der Landwirtschaft.

Oft werden auch falsche Identitäten verwendet, um mehrfach Leistungen zu erschleichen. In anderen Fällen werden Dokumente manipuliert, etwa durch fingierte Wohnverhältnisse. Die Folgen sind gravierend: Nicht nur entstehen hohe Schäden für die Sozialsysteme, auch die Betroffenen selbst leben in prekären Verhältnissen – rechtlich, gesundheitlich und sozial.

Was die Zahlen nicht zeigen: Die große Dunkelziffer

Die offiziell gemeldeten 421 Fälle sind nur die Spitze des Eisbergs. Das räumt auch die Bundesregierung ein. Viele Jobcenter verfügen nicht über ausreichendes Personal, um komplexe Strukturen zu erkennen oder bei Verdacht tiefer zu recherchieren. Die fehlende Einbindung der rein kommunalen Jobcenter verschärft das Bild zusätzlich.

Zudem fehlen verlässliche Daten darüber, wie viele Betroffene in solchen Systemen tatsächlich arbeiten oder leben. Manche tauchen nach wenigen Monaten wieder ab, andere rotieren zwischen verschiedenen Städten und Wohnorten. Eine systematische Erfassung gibt es kaum.

„Mafiöse Strukturen“: Scharfe Worte aus der Politik

Die Bundesregierung reagierte mit klaren Worten. Bundesarbeitsministerin Bas sprach in Interviews von „mafiösen Strukturen“, Kanzler Friedrich Merz (CDU) sieht „sozialen Missbrauch“ im großen Stil und kündigte Konsequenzen an: „Wir werden das abstellen“, sagte er jüngst.

Timon Dzienus, Bundestagsabgeordneter der Grünen, mahnte hingegen zur Sachlichkeit. Angesichts von über fünf Millionen Bürgergeldempfängern seien die bekannten Fälle zwar ernst zu nehmen, aber kein Anlass für Generalverdacht oder Stimmungsmache. Die Debatte müsse differenziert geführt werden.

Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) forderte daher bereits im Juni in einem Interview mit dem Stern einen Ausbau der Zusammenarbeit. Nur so lasse sich überprüfen, ob jemand tatsächlich Anspruch auf Freizügigkeit und damit auf Bürgergeld habe.

„Es gibt ausbeuterische Strukturen, die Menschen aus anderen europäischen Ländern nach Deutschland locken und ihnen Mini-Arbeitsverträge anbieten. Gleichzeitig lassen sie diese Menschen Bürgergeld beantragen und schöpfen die staatlichen Mittel dann selbst ab. Das sind mafiöse Strukturen, die wir zerschlagen müssen.“ – Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas

Leistungsmissbrauch als System – aber kein Massenphänomen

Der organisierte Missbrauch des Bürgergelds durch kriminelle Netzwerke ist ein reales, wachsendes Problem. Die Fallzahlen steigen, und die Methoden der Betrüger sind raffiniert. Dennoch handelt es sich nicht um ein flächendeckendes Phänomen, sondern um klar eingegrenzte Strukturen, oft konzentriert auf bestimmte Städte mit hohem Leerstand und sozialer Verwundbarkeit.

Die Politik steht vor der Aufgabe, konsequenter gegen solche Netzwerke vorzugehen, ohne Millionen ehrlicher Bürgergeldempfänger unter Generalverdacht zu stellen. Entscheidend werden in den kommenden Monaten verbesserte Kontrollen, mehr Personal in den Jobcentern und ein transparenter Datenaustausch sein. Solange sich das nicht ändert, bleibt das Bürgergeld ein Angriffspunkt – sowohl für Betrüger als auch für politische Debatten.

Anatol Tsirgiotis
In meiner täglichen Arbeit habe ich ein einziges Ziel: zu verhindern, dass Leser in Online-Betrügereien oder Betrügereien verfallen.
Geschrieben von: Anatol Tsirgiotis
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